Spätestens,
seit auf dem Donauinselfest 1995 zwischen
Konzertbühnen und Marktständen ein "Cyberzelt" zum
"Surfen" im "Web" einlud, sind die neuen
interaktiven Medien sichtbar in die Wiener
Freizeitkultur eingedrungen. Im selben Jahr hatte
das erste "electronic Cafe" Premiere und wurde zur
Dauereinrichtung, in der man an der "elektronischen
Bar" statt in Zeitschriften in Webpages blättert. Am
Laurenzerberg eröffnet ein "Virtuality" -
Treffpunkt, in dem man sich mit anderen in
elektronisch verteilten Phantasiewelten treffen
kann. Im Wiener Kabeltext wird mit interaktiven
Spielen experimentiert. Eine in die tausende gehende
Wiener Subkultur benutzt Mailboxen wie "Blackbox"
und "Magnet", um zu tratschen, zu spielen, neue
Bekanntschaften zu schliessen....- und so weiter.
Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen,
daß es sich bei den beschriebenen Beispielen um
Vorboten handelt, um die Spitze einer Entwicklung,
die Freizeitverhalten und Freizeitbedürfnisse ebenso
nachhaltig beeinflussen und verändern wird wie das
Auto und das Fernsehen. Vielleicht sind die
Wirkungen und Einflüsse, die aus diesem Bereich auf
Stadtplanung und Stadtentwicklung resultieren, nicht
weniger wichtig als jene, die parallel dazu im
Bereich der Wirtschaft vor sich gehen (Telearbeit-EDI-virtuelle
Firmen). Vielleicht gehen diese Einflüsse sogar so
weit, daß Begriffe wie "Arbeit" und "Freizeit" als
Beschreibung sozialer Realität ausgedient haben. Im
folgenden dazu einige thesenartige überlegungen:
1. Die
digitale Revolution verändert unseren Raumbezug
Eigentlich verdankt
die Telekommunikationsrevolution ihre Dynamik dem
Zusammenwirken zweier unterschiedlicher technischer
Errungenschaften: Einerseits der Fähigkeiten des
Computers zur unterschiedslosen universellen
Symbolverarbeitung im Bereich von Bits und Bytes und
andererseits einer drastischen Verbesserung der
digitalen übertragungsmedien. Beide sind für sich
genommen spektakulär, entfalten aber in der
Kombination eine epochal zu nennende Synergie.
Während eine klassische Fernsehübertragung noch ein
eindeutiges Verhältnis von Abbild und Realität
kennt, ist die Realität der digitalen Medien
"überall zugleich", weil sie sich in bits und Bytes
verselbständigt. Die Telekommunikationstechnologie
transportiert im Computer repräsentierte,
simulierte, manipulierte Realität.
Daß dadurch physische Entfernungen auf Null
zusammenschrumpfen ist die erste Folge der Synergie
von Telekommunikation und Computern. Man "trifft"
sich an "virtuellen Orten", ebenso wie man über das
Internet eine New Yorker Straßenkreuzung aufsuchen
kann, weil dort eine Kamera am Netz hängt. Der
Computer ist Wegweiser und Weg zugleich.
Das Interface zwischen Mensch und Maschine ist durch
die Telekommunikationstechnologie zu einem Interface
des unmittelbaeren Bezugs zwischen Räumen geworden.
1
Die zweite Folge der oben beschriebenen Synergie
ist Mischung der digitalen Repräsentation mit
verschiedenen, an ihren Aus- und Eingabeterminals
vorhandenen "Realitäten" - und sie ist der
eigentliche Witz und enthält das enorme Potential
der neuen Medien im Freizeitbereich. Der Computer
für sich genommen kann noch so schöne Simulationen
bieten - die in ihm gespeicherten Daten sind
grundsätzlich endlich und damit langweilig
2. Ganz anders,
wenn wirkliche Subjekte und Objekte als Spieler
einbezogen und mittels Telekommunikation Eintritt in
die mystische Sphäre Digitalität erhalten: Dann wird
Realität zum Anhängsel ihrer virtuellen
Repräsentation und eine neue "Hyperrealität"
entsteht, in der Wirkungen und Ursachen ihre
bisherige raumzeitliche Fixierung verlieren.
Sehr schön anschaulich gemacht wurde diese
Vermischung von Virtualität und Realität unlängst
bei einem Projekt im Rahmen der Ars electronica
namens "checkpoint 95". In zwei Studios in Moskau
und New York saßen russische und amerikanische
Kriegsveteranen in Autoattrappen, deren
Bedienungselemente mit Modellautos auf der Linzer
Nibelungenbrücke verbunden waren. Kleine Kameras in
den Modellautos versorgten die VR-Brillen der
Teilnehmer, die dadurch in Linz "telepräsent" waren
- als Liliputaner in einem Spektakel von Riesen.
Diese digitale Mischrealität mag dem Probanden heute
noch übelkeit zufügen angesichts der auftretenden
Zumutungen an den Wahrnehmungsapparat, aber sie hat
eine ganze Reihe von Verlockungen in petto.
- Zum ersten
verspricht die "telepräsente" Reise etwas mehr zu
sein als ein pures Abbild von Realität: ein Hauch
von Unmittelbarkeit, von Authentizität, von
eigenem Erlebnis wird da geboten ohne alle damit
verbundene Risiken und Mühen. Andreas Okopenko hat
die Möglichkeit des selbständigen "Navigierens"
durch die Hyperrealität als überwindung
langweiligen "Ostblock-Tourismus" gepriesen, der
nur vorgeschriebene und geprüfte Blicke erlaube.
Der Internet Jargon bezeichnet das Navigieren im
World Wide Web als "surfen". Das Modellauto fährt
jetzt, und weil ich es so gewollt habe, an den Fuß
des Moderators - der mir vorkommt wie ein Felsen.
- Damit verbunden
ist auch die faszinierende Möglichkeit, die
Grenzen der eigenen Identität zu überschreiten.
Wie gesagt - "nobody cares if you are a dog on the
Internet". Für Rollenspiele muß man sich nicht
maskieren, das besorgt die Hyperrealität. Im Chat
der Geschlechter kann sich "Mann" als "Frau"
ausgeben, mit Verhaltensweisen kokettieren und
seinesgleichen täuschen.
- Wo die
Hyperrealität Handlungsfeld ist, ist zum dritten
auch das überschreiten des in der Realität
Erlaubten und Möglichen kein Problem mehr. Man
trifft sich mit Gleichgesinnten in Fantasy-Welten,
benimmt sich wie ein echter Barbar, oder erkundet
die Galaxis mit millionenfacher
überlichtgeschwindigkeit. Auf Internet Ethik-Foren
wird die Verwerflichkeit virtueller Morde
diskutiert.
- Wo heute noch
der Einsatz persönlicher Phantasie notwendig ist,
um der Hyperrealität die nötige Plastizität und
Tiefe zu verleihen, versprechen neue Interfaces
sensorische Stimulation. So verspricht viertens
die Hyperrealität tiefer und nachhaltiger "unter
die Haut" zu gehen als Erlebnisse, die auf
abgestumpfte Sinne treffen.
2. Die
Simulation ist die perfekte Ware
Kein Wunder also,
wenn weltweit Computerfirmen,
Telekommunikationskonzerne und die
Unterhaltungsindustrie Allianzen und
Zusammenschlüsse bilden, um mit enormem technischen
und finanziellen Aufwand den digitalen Freizeitmarkt
der Zukunft zu erobern.
Einstweilen haben wir zwar nur das Internet als
"Datenhighway", aber schon wird in den
Marketingabteilungen der Konzerne die Frage
aufgeworfen, wie der Konsument zum Produkt kommt.
Die Manager der Freizeitindustrie denken zum
Beispiel an "digitale Freizeitparks": "Mit der
richtigen Ausrüstung (raumhohe Projektionsflächen,
bewegliche Plattformen, einige Crimson Reality
Engines zur Erzeugung hochauflöslicher Bilder) kann
man ganz Disneyland in einen Dodge Caravan stecken",
erklärt ein Manager des Entertainmentkonzerns Sega
dem Redakteur der amerikanischen Computerzeitschrift
Wired. 3
Andere wollen sich mehr dem Haushaltsmarkt
widmen und sehen in "Video on demand" die Vorstufe
einer "Reality on Demand" - Industrie, die
interaktive Abenteuer jeder Art in Millionen von
Haushalte liefert. Wenn jeder Film ohnehin in
tausende digitale Schnippselchen zerschnitten wird,
warum sie dann nicht interaktiv neu zusammensetzen,
je nach Reaktion des Betrachters? Und mit der selben
Inbrunst, mit der vor einem Jahrzehnt noch an
Reagans Wunderwaffe gegen das Reich des Bösen
gewerkt wurde, widmet sich die Ingenieurskunst dem
höheren Auftrag, schiere Rechenleistung zuwege zu
bringen, um mittels Breitbandkommunikation den
Konsumenten die perfekte Simulation ins Haus zu
liefern.
Kein Zweifel, daß dieser Auftrag erfüllt werden
wird, technisch gesehen. Aber jede Menge Zweifel
sind gerechtfertigt, ob das ganze Unterfangen, einen
neuen Wachstumsmarkt Freizeitindustrie zu schaffen,
nicht von vorneherein an einer Unmöglichkeit ganz
anderer Art scheitern wird. Die überlegungen der
Mediengiganten gehen nämlich davon aus, daß sie auch
in Zukunft genug zahlungsfähige Konsumenten
vorfinden werden, in deren Haushalte sie gegen gutes
Geld die Ware Information und Simulation
transportieren können.
Die eine Seite der Gleichung, die dabei unterstellt
wird, ist die Kommodifizierbarkeit von Information
und Simulation. Im Prinzip geht die Medienindustrie
von einer linearen Extrapolation der Hollywood-Ära
in die digitale Zukunft aus, von globalen
Traumfabriken mit einer noch stärkeren Komponente
auf der Verbindung zwischen Marketing, Moovies und
Merchandising. War im Film das product placement
bereits fester Bestandteil des Sets, wird das
digitale Movie auch gleich noch zum Verkaufskatalog.
Bei den Technologiegesprächen Alpbach 1994 wurde das
mittleweilen sprichwörtliche Bild von der online
Auktion von Indiana-Jones' Hut geboren: das
Feilbieten von Waren im Kontext ihrer Präsentation
im Entertainment. Die Medienintegration bedeutet vor
allem die zunehmende Ununterscheidbarkeit von
Werbung, Information und Marktplatz.
Der elektronische Marktplatz ist nicht nur
universell, er vermag Zugriff auf mehr Anbieter zu
vermitteln als die größte Shopping Mall
4, er soll auch
noch gleich das Kaufmotiv mittransportieren. Kein
Wunder, daß sich im Gegenzug die Einkaufszentren in
Unterhaltungszentren verwandeln wollen, um den
Anschluß an die Konsumenten nicht zu verlieren.
Die Medienindustrie und ihre elektronischen
Transportwege machen praktisch wahr, was der Ende
1994 durch Freitod aus dem Leben geschiedene Guy
Debord in seiner "Gesellschaft des Spektakels"
vorausgesagt hat: die tendenzielle
Ununterscheidbarkeit von Warenproduktion und
Unterhaltungsindustrie. Seine Kritik der
"Trennungen", der abstrahierenden und
zerstörerischen Qualität des warenförmigen Reichtums
ist aktueller denn je: je mehr "Schein" und
"Spektakel" die Distributionsform gesellschaftlichen
Reichtums bestimmen, umso geringer wird die Chance,
daß dieser sich als System von sinnlich-konkreten
Bezügen überhaupt noch erhält. Der Bestand an
Irrationalität im Gesamtsystem nimmt in genau dem
Ausmaße zu, je perfekter die Details funktionieren.
Der Schein von Konkretheit, der für den Akt der
Konsumtion erzeugt werden muß, ist genau die
Abstraktion, die das Leben in unzusammenhängende
Stücke zerschneidet.
3. Die
Arbeitsgesellschaft geht zu Ende - und mit ihr die
Freizeit
Die andere Seite
der Gleichung, mit der die Freizeitkonzerne ihre
Milliardeninvestitionen rechtfertigen, ist nicht
weniger fragwürdig geworden. Um "video on demand" zu
einer lohnenden Investition zu machen, muß der
durchschnittliche "verkabelte" Haushalt tausende
Dollar jährlich ausgeben. Die Existenz einer breiten
Mittelschicht gutverdienender Konsumenten ist
conditio sine qua non solcher Projekte.
Was aber, wenn gerade aufgrund der rasenden
Fortschritte der Informations- und
Kommunikationstechnologien die Voraussetzungen
dieser Gleichung unwiederbringlich aufgehoben
werden? Der amerikanische Ökonom und Trendforscher
Jeremy Riffkin behauptet in seinem Buch "The End of
Work", daß die neuen Technologien mit den
Produzenten auch die Kaufkraft der Konsumenten
abschaffen:
"Unsere führenden Geschäftsleute, Ökonomen und
Politiker sagen uns, daß die steigenden
Arbeitslosenzahlen nur kurzfristige "Anpasungen"
darstellen, die von den weltweiten Fortschriten ins
Informationszeitalter kompensiert würden. Aber
Millionen von arbeitenden Menschen bleiben
skeptisch. Allein in den Vereinigten Staaten
vernichten die Unternehmen zwei Millionen
Arbeitsplätze jährlich. Obwohl auch neue
Arbeitsplätze geschaffen werden, so doch
hauptsächlich in Niedriglohnsektoren, und viele
davon sind befristete und
Teilzeitarbeitsverhältnisse."
5
So ist es in den USA heutzutage in den
Mittelschichten durchaus verbreitet, zur Haltung des
bisherigen Lebensstandards zwei oder gar mehrere
Arbeitsverhältnisse einzugehen. Damit wird aber die
bisherige Freizeitsphäre zur statistischen Fiktion
und verwandelt sich immer mehr in den Kampf ums
überleben: bei den einen als Mehrarbeit, bei den
anderen als Arbeitslosigkeit.
Die Telekommunikationstechnologien und der
Datenhighway sind Schlüsseltechnologien bei dieser
dramatischen sozialen Entwicklung: war es zunächst
die unternehmensinterne Vernetzung durch Local Area
Networks und die dadurch mögliche
Kommunikationseffektivierung, die vor allem
Kahlschläge im unteren und mittleren Management
verursacht hat - Eastman Kodak hat zum Beispiel
heute nur noch vier Managementstufen, wo vor wenigen
Jahren noch dreizehn üblich waren -, so folgt nun
die "Selbstbedienungsgesellschaft". Andersen
Consulting, eine weltweit führende
Unternehmensberatung, sieht allein im Bankwesen
einen Personalabbau von rund 30 bis 40 Prozent in
den nächsten Jahren voraus. Telebanking, Bankomaten,
Kundenberatung per Video sind nur einige der
Innovationen, die hier zu greifen beginnen, ähnliche
Entwicklungen vollziehen sich im Bereich des
Handels.
Die dritte und möglicherweise dramatischste Stufe
der Veränderung des Verhältnisses von Arbeit und
Freizeit besteht in der Ausbreitung von Telearbeit.
Die Möglichkeit, mithilfe von Computern und
Telekommunikation auch zu Hause oder im
Nachbarschaftsbüro zu arbeiten, wird von vielen
Arbeitnehmern durchaus mit Sympathie betrachtet -
bedeutet doch schon die schlichte Ersparnis an
Wegzeit einen Gewinn an Freizeit. Für Firmen
eröffnen sich freilich damit ganz neue Freiheiten
der Kalkulation, die im Endeffekt den spürbarsten
Einschnitt in die Freizeitsphäre bringen könnten.
Der Nutzen von Telearbeit besteht auf dieser Seite
vor allem in der Flexibilisierung der Arbeitskraft.
Ein Manager aus Großbritannien drückte das bei der
Telearbeitskonferenz 1993 mit dem Vergleich aus,
"Telearbeit wie die Flammen auf einem Gasherd"
handhaben zu können. Die Mitarbeiter - die Firma
besteht zu 99% aus Teleheimarbeitern - würden je
nach Auftragseingang in Anspruch genommen und
bezahlt, statt eines Mindesgehalts erhielten sie für
die ständige Dienstbereitschaft vom Unternehmen eine
Treueprämie in der Höhe von 10% ihres
Normalverdienstes.
Telearbeit bedeutet die Verlagerung der
Arbeitsaktivitäten in den Kernbereich der Freizeit.
Alleine die mangelnde räumliche Trennung begünstigt
Workoholismus, überzeiten, Unschärfen und
Instrumentalisierung des Privat- und
Freizeitbereiches. Die Verantwortung für die
Ergonomie der Arbeitsumgebung, für Kosten aller Art,
für Ausfälle und Störungen kann sehr viel leichter
auf die Arbeitnehmer abgeschoben werden. Die
grenzüberschreitende Flexibilität der Arbeitskraft
vergrößert die Konkurrenz unter den Arbeitnehmern
und gefährdet sozialpartnerschaftliche Arrangements,
die im nationalen Rahmen noch möglich waren. Wenn
heute schon eine österreichische Fluglinie ihre
Buchhaltung in Indien erledigen lassen kann, dann
schafft das eine gewisse Vorstellung von dem, was zu
erwarten ist, vor allem angesichts der zuvor
beschriebenen Ungleichgewichte in Angebot und
Nachfrage.
Peter Drucker hat "das Verschwinden der Arbeit als
Schlüsselproduktionsfaktor" als das "größte
unerledigte Problem des Kapitalismus" bezeichnet. In
einer Studie der ILO in Genf, zitiert vom ehemaligen
Vorsitzenden der International Association of
Machinists, Winpisinger, wird gar die drastische
Vorhersage unternommen, daß in den nächsten Jahren
durch Automation und Biotechnologie nur mehr 2
Prozent der heute benötigten Arbeitskraft benötigt
werden, um alle nachgefragten Güter zu produzieren.
Rifkin dazu: "Viele Beobachter fragen sich, wie eine
zunehmend arbeitslose und minderbeschäftigte
Bevölkerung, ersetzt durch die neuen Technologien,
überhaupt noch in der Lage sein wird, sich die
Produkte und Dienstleistungen, die da massenhaft
angekurbelt werden, überhaupt zu leisten."
6
Wie sehr sich die Realitäten verändert haben,
sieht man auch an den Utopien. Die totale
Freizeitgesellschaft, wie sie zum Beispiel in den
legendären Entwürfen der Gruppe "Archigramm" Gestalt
angenommen hat, kommt uns seltsam antiquiert vor.
Die Propheten von "Plug-In Cities" und "Datasuits",
die in den 60er Jahren die Entstehung der
Hyperrealität vorhergeahnt und eine architektonisch
- stadtplanerische Antwort darauf zu geben
versuchten, können uns keine Antwort geben auf die
erschreckende Realität der Neunziger, in denen nicht
nur im Weltmaßstab, sondern in unseren Städten
selber die Disparität der Lebensbedingungen
zunehmend auseinanderklafft: in denen sich enormer
Reichtum auf Gewinnerinseln ebenso akkumuliert wie
ein Meer von Verlierern der Weltmarktkonkurrenz.
4. Die
monadische Phase ist eine transitorische
Gerade unter den
Bedingungen einer durch wirtschaftliche
Globalisierungsprozesse verstärkten Unsicherheit,
eines zunehmenden Auseinanderbrechens der einstmals
so homogenen Außenwelt, dem verstärkten Kontrast
zwischen den Gewinnern und Verlierern der globalen
Marktwirtschaft, erscheinen "cocooning" und neues
Biedermeier auf der Bildfläche, als ob "sich im
nächsten Jahrtausend der durchschnittliche Städter
ohnehin hinter seinen eigenen vier Wänden
verbarrikadiert und mittels Satelitenantenne, Modem-
und Faxanschluss mit der Umwelt nur mehr telematisch
kommuniziert". 7
Einiges von diesen Szenarien sehen wir heute schon
in Metropolen der westlichen Welt vorweggenommen:
Die "unsafe areas" auf der einen, die gutbewachten
Ghettos der Reichen auf der anderen Seite, das
verweifelte Suchen nach kultureller Identität auf
beiden Seiten. Simulation scheint allenthalben zum
Lebenszweck geworden zu sein, nicht nur bei den New
Yorker Schwulen, die allwöchentlich auf ihren Bällen
mit geklauten Klamotten darum konkurrieren, wer die
von der Medienindustrie aufgebauten Lebensstile -
von "Dynasty" bis zum "successful businessman" - in
seiner Person am glaubhaftesten verkörpert. Robert
Kurz spricht in seinem "Kollaps der Modernisierung"
von der "monadischen Subjektivität", der mit der
Strukturkrise der Arbeit (und, darauf aufgebaut,Geld,
Familie,Politik etc.) sämtliche gesellschaftlichen
Handlungsmöglichkeiten unter den Füßen weggezogen zu
sein scheinen. Der Zerfall einer bestimten Form von
Gesellschaftlichkeit erscheint als Zerfall von
Gesellschaft überhaupt, und das Bild der
Leibnitzschen Monade - jeder Mensch ausweglos
eingeschlossen in eine Sphäre subjektiver Realität -
paßt treffend auf diese Zeitbefindlichkeit.
Es sind freilich Zweifel angebracht, ob die
monadische Lebensform von Dauer ist. Die zunehmende
Zahl der Single-Haushalte und die fundamentale
Auflösung der funktionellen Geschlechterdifferenz
kündigen wohl weniger einen neuen Lebensstil an als
vielmehr die schlichte Unmöglichkeit, im
biedermeierlichen Familienidyll der Auflösung der
Arbeitsgesellschaft zu entkommen. Zu stark sind die
wechselseitigen Anforderungen, einander die
Sicherheit und den Halt zu geben, den die
schwindende gesellschaftliche Form versagt. Die
Ungesellschaftlichkeit der Monade ist zugleich
Zufluchtsort und Quelle eines Leidensdruckes von
eigentümlich moderner Qualität: sich in einem
Universum menschlicher Möglichkeiten scheinbar frei
entscheiden zu können, ohne daß eine davon wirklich
konkrete, gesellschaftliche Gestalt annehmen würde.
Die Telematik hat in diesem Kontext einen
eigentümlichen Doppelcharakter. Sie kommt dem
Bedürfnis nach Rückzug und Isolation entgegen, sie
ist fast identisch mit den Schreiben eines
Tagebuches. Zugleich eröffnet sie ein absolut
neuartiges Kontinuum reichhaltigster
gesellschaftlicher Kommunikation durch die
scheinbare Vereinsamung hindurch:
"Die virtuelle Gemeinschaft...die der amerikanische
Soziologe Howard Rheingold jüngst anschaulich
beschrieben hat, funktioniert so nach einem neuen
Prinzip, das seiner Struktur nach paradox ist: die
durch die digitale Technik erzwungene reale
Isolation des Users ermöglicht eine virtuelle
Kommunikation, die nach den Parametern Raum und Zeit
alle bisherigen Kommunikationsformen übertrifft.
Quasi autistisches Verhalten und intensivste
Kommunikation fallen ineinander"
8
Wenn diese Kommunikation zu "virtuellen
Gemeinschaften" führt, dann könnte sich durch diese
Virtualität hindurch auch ein Diskurs entfalten
lassen, der sich in der gesellschaftlichen Realität
manifestiert.
"Die populäre Sorge, daß Computer und
Telekommunikationsmittel uns den unmittelbaren
persönlichen Face-to-Face Kontakt nehmen werden und
menschliche Beziehungen noch künstlicher werden,
diese Sorge ist naiv und vereinfachend. Es könnte
genausogut umgekehrt kommen. Während einige Kontakte
im Büro oder in der Fabrik weniger intensiv werden,
könnten die Bindungen im Heim und in der
Nachbarschaft durch diese Technologien vebessert
werden. Computer und Kommunikation können uns sehr
wohl helfen, Gemeinschaft zu bilden."
9
Dieses Szenario eines "Global Village", einer
durch digitale Kommunikationsmedien intensivierten
und aufgewerteten physischen Lebensumgebung, gewinnt
seine Wahrscheinlichkeit in dem Maße, in dem sich
die arbeitsgesellschaftlichen sozialen und
politischen Netze aufzulösen beginnen. Wo die
globalen Pipelines mit Waren und Dienstleistungen
aller Art überfüllt sind, ergibt sich die Chance,
einen neuen nichtmonetären gesellschaftlichen Sektor
zu schaffen, der nicht nur an die Stelle der nicht
mehr finanzierbaren staatlichen Versorgungssysyeme
tritt, sondern dessen Tätigkeiten fürsorgenden und
gemeinschaftsbildenden Charakters eine neue Basis
lokaler Lebensqualität bilden. Diese Tätigkeiten -
Kinder- und Altenbetreuung, Gesundheitsvorsorge,
lokale Kulturinitiativen, Betreuung lokaler
Stoffkreisläufe, Spiritualität etc. - haben nicht
den scharfen, distinktiven Charakter von "Arbeit" in
Gegensatz zu "Freizeit", sie gründen sich auf
lokalen Arrangements und Vernetzung und ihnen liegt
das Bewußtsein zugrunde, daß Probleme lokal gelöst
werden oder gar nicht.
Die Informationstechnologien spielen in diesem
Kontext eine dreifache Rolle:
- erstens erlauben
sie es, daß die Zentren wirtschaftlicher Aktivität
und die lokalen "dualen" Lebensräume überhaupt in
eine ökonomische Beziehung treten können: durch
Telearbeit lassen sich Segmente globaler
Produktion (meistens handelt es sich um die
immateriellen Tätigkeiten, doch deren Anteil an
der Wertschöpfung steigt ständig) räumlich dorthin
auslagern, wo stoffliche Ressourcen in reicherem
Ausmaß vorhanden sind als in den städtischen
Zentren.
- zweitens
ermöglichen sie es, diese stofflichen Ressourcen
in einer Art zu nützen, die einen Ausgleich für
die stets schwindende Kaufkraft und
Zahlungsfähigkeit der Gemeinde bedeutet. "Doing
more with less", dieses Motto von Buckminster
Fuller, bedeutet die ständig steigende Umsetzung
von Wissen in Effizienz. Dieses Wissen ist global
vorhanden, muß aber jeweils lokal realisiert
werden.
- drittens
schaffen die Informationstechnologien jene
"kommunikative Dichte", die Austausch- und
Koordinationsvorgänge im Mikrokosmos unserer
Siedlungsräume mit minimaler Bürokratie erlaubt.
5. Der
wahre Wert der Telekommunikationstechnologie liegt
in der Erschließung mikrokosmischer Lebensräume.
Telekommunikationspolitik ist heute noch geprägt von
industriegesellschaftlichen Zielen und
Effizienzvorstellungen. Der "Aktionsplan für Europas
Weg in die Informationsgesellschaft" der
Europäischen Komission stützt sich auf das Weißbuch
"Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung" und
die Maxime, "daß Informations- und
Kommunikationstechnologien und darauf basierende
Dienste ein stetiges, anhaltendes Wachstum fördern,
die Wettbewerbsfähigkeit steigern, neue
Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen und die
Lebensqualität aller Europäer verbessern können"
10
Die Ideologie der "Wettbewerbsfähigkeit"
übersieht, daß sie strukturell ihre eigenen
Grundlagen untergräbt. "Wenn jeder mit jedem
konkurriert, bricht früher oder später das System
zusammen" 11.
Nicht konkurrenzfähige Teile der Ökonomie werden
geopfert, nicht konkurrenzfähige Regionen und
Staaten werden marginalisiert, nicht warenförmige
Ressourcen (vor allem die natürlichen
Lebensgrundlagen) werden verschwendet.
Die grundlegende Neuerung des Informationszeitalters
ist nicht die Schaffung neuer Mittel im ökonomischen
Wettbewerb; vielmehr ist die grundsätzliche Neuerung
die Steigerung der Autonomiefähigkeit und somit das
ziemlich genaue Gegenteil. In der "alten" Ökonomie
ist materieller Export das Mittel des
Reichtumserwerbs: am Schluß nur mehr für ganz wenige
Gewinner. In der "neuen" Ökonomie des
Informationszeitalters verwandelt Wissen
Stofflichkeit. Anstatt Materie von einem Raum zum
anderen zu bringen, um sie zu bearbeiten, wird von
dem Umstand Gebrauch gemacht, daß Prozesse in
beliebiger Komplexität raumübergreifend gesteuert
werden können. Dann aber macht es erst recht Sinn,
Materie nicht zu transportieren, sondern in mehr
oder minder geschlossenen Kreisläufen an Ort und
Stelle zu zirkulieren. Und im Unterschied zum
gnadenlosen Wertgesetz der Industrieware - je mehr
die Produktivität steigt, desto mehr sinkt der
Warenwert - macht sich das Grundgesetz der neuen
Ökonomie des Wissens geltend: je mehr das Wissen
angewandt und verbreitet wird, umso mehr Werte
schafft es. 12
Die telekommunikativ vermittelte Hyperrealität und
die ökologische Vernunft sind natürliche
Bündnispartner. Die von der Arbeitsgesellschaft
zurückgelassenen Freiräume und die prekäre Freizeit
bieten eine Chance, dieses Bündnis in die Tat
umzusetzen.
1
"Die alten Technologien entfalteten ihre
unmittelbare Wirkung nur am Ort ihres Seins. Die
Bewegung eines Fahrzeuges ist an dessen Lokalisation
gebunden. Die Kraft des Baggers verursacht genau
dort auch ein Loch in der Erde. Die Prozesse, deren
Verarbeitung Aufgabe der neuen Technologien ist,
sind delokalisierbar, weil sie keinen im
Koordinatensystem fixierten Ort haben. Alles ist
immer, überall und jetzt. Computer haben die
Funktion von Kapellen. Der Eintritt in die Kapelle
führt immer zu derselben metaphysischen Sphäre."
(Roland Alton-Scheidl et al., Technologische Kultur,
Wien 1993, p.24)
2 Es existieren
durchaus ernstzunehmende Versuche, quasi einen
Gegenbeweis anzutreten. So hat der Komponist
Karlheinz Essl mit seiner "Lexikon-Sonate" einen
hochkomplexen Algorithmus geschaffen, mittels dessen
ein gewöhnlicher Personal Computer über alle unsere
Zeitbezüge hinaus ständig neue Musik generiert,
"komponiert". Permutationen, Variationen
Zufallsgeneratoren vermögen auch innerhalb des
abgeschlossenen Kontinuums der virtuellen Realität
für gewisse Tiefe zu sorgen. Und doch wird uns erst
durch derartige Vergleiche der informationelle
Reichtum der uns umgebenden "physischen" Realität
bewußt.
3 John Battelle, "Seizing
the next level - Sega's plan for World Domination"
in Wired 1.6, Dezember 1993
4 Es gibt übrigens
schon eine "Internet Shopping Mall", in der
besonders leichte Preisvergleiche, aber auch das
Auffinden seltener Produkte möglich sind. .
5 Jeremy Rifkin,
After Work - a blueprint for social harmony in a
world without jobs, in: Utne Reader No.69, May-June
1995, p.53
6 derselbe ebenda,
p.56, ebenso die weiteren Zitate aus diesem Absatz.
7 Thomas Proksch,
"über den Traum von der ökologischen Stadt..." in:
Perspektiven 6/7.1993, p.19
8 Konrad Paul
Liessmann, "Die neuen Medien und ihre Feinde", in:
Raum, österreichische Zeitschrift für Raumplanung
und Regionalpolitik, Nr.18,Juni 1995, p.29
9 Alvyn Toffler,
The third Wave, New York 1981,p.225
10 Europas Weg in
die Informationsgesellschaft, Brüssel, 19.7.1994,
Einleitung
11 Group of
Lisbon, Limits to Competition, Lissabon 1993, p.125
12 "With physical
goods, there is a direct correlation between
scarcity and value....the situation with information
is often precisely the reverse. Most soft goods
increase in value as they become more common."
JohnPerry Barlow, the Economy of Ideas, Wired, March
1994, p.126
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