Leben online: Kontrolliert, Überwacht, Ausgegrenzt?
Beat Leuthardt
Autor (CH)
Wir haben uns an die Videokamera im Supermarkt oder auf dem Marktplatz
gewöhnt. Wir schauen gern in die vielen Fernsehprogramme, die uns
das Glasfaserkabel oder der Satellitenfunkempfänger ins Haus bringt.
Wir wundern uns nicht mehr drüber, daß Online-Technik unsere
Fax-Briefe in einer Minute ans andere Ende des Globus kopieren kann. Die
neuen Kommunikationstechniken haben die westlichen Industriegesellschaften
in Dienstleistungsgesellschaften verwandelt, Chipkarten vereinfachen unseren
Zahlungsverkehr, automatisieren die Warenlager und führen uns zum
Standort unseres gestohlenen Autos. Computernetzwerke sorgen dafür,
daß wir auch beim Last-Minute-Flug noch sicher unsren Platz finden,
unsere Rente zuverlässig ausgerechnet und angewiesen wird, daß
wir bei der Grenzkontrolle in wenigen Sekunden "grünes"
Licht erhalten. Daß Maschinen und dahintersitzende Menschen viele
unserer Schritte im Arbeits- und Alltagsleben beobachten und kontrollieren,
so heißt es, dient unserem Schutz und unserer Sicherheit. Und das
Gefühl, Schutz und Sicherheit zu brauchen, war in unseren Gesellschaften,
so scheint es, noch nie so groß wie heute.
Problematisch wird es dort, wo sich Online-Technik gegen Menschen richtet.
Wo die automatisierte Registrierkasse im Supermarkt auch gleich die Arbeit
der Kassiererin mitregistriert, wo die Grenzkontrolle dazu dient, potentielle
Flüchtlinge abzuweisen, wo das Satellitenortungssystem neben dem Auto
auch die Bewegung seiner Fahrerin oder seines Fahrers aufzeichnen kann,
wo die Videokamera ganzen Altstädten die stille Anonymität nimmt
oder wo unser eigener Home-PC unsere Dateien via Internet fremden Personen
und Diensten offenbart. Oder wenn der Fahndungscomputer gegen Unverdächtige
eingesetzt wird und Unschuldige erfaßt.
In meinem Vortrag, wie in meinem Buch "Leben On-line" geht
es nicht um die positiven Entwicklungen der neuen Informationstechnologien,
sondern um ihre Kehrseite und um die Gefahren, die sie in sich bergen und
die heute schon klar erkennbar sind. Dabei werden zwei Entwicklungen in
den Blick genommen und miteinander in Beziehung gesetzt. Die erste betrifft
die informationelle "Aufrüstung" staatlicher und überstaatlicher
Verwaltungs-, Fahnungs- und Überwachungssysteme in Europa, vor allem
in der Bundesrepublik und der Schweiz, aber auch in den Niederlanden, Frankreich
oder den ost- und mitteleuropäischen Staaten.
Während hier versucht wird, mit den erreichbaren Fakten zu belegen,
daß gerade Wirklichkeit wird, was besorgte Kritikerinnen und Kritiker
seit langem befürchten, vollzieht sich auf der Alltagsebene eine zweite,
völlige neue Entwicklung: Der zentralen Vernetzung von Daten steht
eine dezentrale gegenüber, die dient der Rationalisierung im Dienstleistungs-
und Sozialsektor und ist dabei, sozusagen als Nebeneffekt, uns ebenfalls
in einem Ausmaß an die elektronische Leine zu nehmen, über das
der oder die einzelne kaum nachdenkt.
|